1. Platz in der Jahrgangsstufe 9
Hannah Sendt
Einhard Gymnasium Aachen
Sie ist der Feind
Ihre eisblauen Augen haben viel gesehen,
so viel mehr, als es meine jemals werden,
denn ihr Leben liegt in Scherben,
man sieht es nicht, doch ihr ist Leid geschehen.
Wenn sie spricht, wenn sie spielt und lacht,
sieht man nicht, was es mit ihr macht,
doch sie schläft nicht in der Nacht,
sie sitzt da und will vergessen.
Dann ist es, als wäre sie noch da,
ihr altes Leben noch so nah,
doch sie weiß, es ist ihr klar,
sie kann nie mehr dorthin zurück.
Ihre Augen beginnen zu reflektieren,
Sie steht wieder am Fenster,
sieht leblose Hüllen, ihre Gespenster,
und beginnt zu spekulieren,
Wie es wohl wäre, hätte es den Krieg nie gegeben?
– Wären sie dann alle noch am Leben? –
Ein paar eisblaue Augen hängen an den meinen,
ein Lächeln klettert über deren Gesicht,
es umnebelt mich, dämmert meine Sicht,
mir ist so, als würde ich weinen.
Und dieses Lächeln erzählt tausend Geschichten,
und doch nur von einem Atemzug,
ist tief wie das schwarze Meer,
und doch trüb, flach und leer.
Ihr Finger schnellt durch die Luft,
spitz und schlank wie ein Pfeil,
gleitet er zwischen uns,
und sie spricht:
„Sie ist der Feind!“
Zuerst verstehe ich nicht,
warum sie die nennt ihren Feind,
die mit dem sanfte Lächeln im Gesicht,
die, die sogar ihre Sprache spricht.
Doch dann trifft er, der Pfeil,
schlägt heftig ein wie ein Beil,
trifft mich,
und die Bilder schießen wieder durch meinen Kopf.
Sirenen, Soldaten, Panzer glänzen im Licht,
wir alle starren in ein kaltes Gesicht,
es droht mit Bomben und Weltuntergang,
wir zittern Stunden-, Tage-, eine Ewigkeit lang.
Ich will etwas sagen,
und öffne meinen Mund,
um sie anzuklagen,
doch nichts kommt heraus.
14 Buchstaben fesseln meine Zunge,
Vier Wörter drücken auf meine Lunge,
Es raubt mir den Atem und die Sicht,
Begreifen kann und will ich es nicht.
Es fällt mir wie Schuppen von den Augen,
doch ich will es trotzdem nicht glauben,
denn auch wenn SIE es ausspricht,
es mir und jedem sagt ins Gesicht,
ihre „Schuld“ ist es nicht.
Wie könnte es auch ihre sein?
Mit acht ist man für das „zu klein“.
Auch wenn es nicht die ihren Worte sind,
sie stehen für das Leid von einem Kind.
Erst jetzt wird mir klar,
dieser Krieg ist so wahr,
und nicht weit weg,
sondern jetzt, hier, nah.
Es ist ein Angriff,
nicht nur auf die Ukraine und die Menschen dort,
sondern auf jeden Mensch und jeden Ort,
auf jede Stadt und jedes Land,
gebaut auf Stein, gebaut auf Sand,
auf dich, auf mich und auf die Menschlichkeit,
auf jeden von uns seit Anbeginn der Zeit.
Auch auf die beiden,
auf die kleine Russin mit dem Lächeln im Gesicht,
auf das ukrainische Mädchen, dass ihre Sprache spricht.
Auf die vermeintlichen Feinde, die bloß kleine Mädchen sind,
mit den falschen Worten im Mund,
den falschen Gedanken, so ungesund.
Gift für das Leben,
Gift für den Frieden,
und Gift für die Menschlichkeit.
Ich beginne zu reden.